Die "historische Erzählung" des Schriftstellers und Drehbuchautors Jochen Hauser, 1941 in Chemnitz geboren und in der ehem. DDR aufgewachsen und ausgebildet, wurde bereits 1987 ebendort herausgegeben. Darin konstruiert Hauser auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Georg Weerth und seiner großen, aber unerfüllten Liebe Betty Tendering ihre Begegnungen und Gespräche.
Georg Weerth wurde am 17. Februar 1822 in Detmold als Sohn des Pfarrers, Superintendenten und Pädagogen Ferdinand Weerth geboren. Trotz seines Hangs zum Schreiben und zur Literatur ließ er sich zum Kaufmann ausbilden. Er machte früh Bekanntschaft mit dem Redakteur der Barmer Zeitung Hermann Püttmann, der ihn für sozialistische Ideen begeisterte. Über ihn lernte er u. a. Ferdinand Freiligrath, später in England auch Friedrich Engels und in Brüssel Karl Marx kennen, die ihm während seiner Besuche in London in die Welt der Arbeiter führten, was seine kritische Einstellung zu den schwierigen Bedingungen, unter denen die arbeitende Bevölkerung lebte und litt, erhöhte. 1848 gründete er mit Marx und Engels die Neue Rheinische Zeitung. Im von ihm geleiteten Feuilleton äußerte er sich regelmäßig kritisch-satirisch über den Adel, was in der Satire Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphanski mündete. Die vermeintliche Verunglimpfung des kurz vor Veröffentlichung zu Tode gekommenen Fürsten Felix Lichnowski führte zu einer Verurteilung Weerths zu drei Monaten Gefängnis (im Klingelpütz Köln) sowie Aberkennung der Bürgerrechte für fünf Jahre. Die Enttäuschung über das Scheitern der 1848er Revolution und sein persönliches Schicksal führte zu einer Abkehr vom Schreiben und Hinwendung zur kaufmännischen Berufsausübung als Handelsreisender, die sich über viele Länder ausdehnte: England, Frankreich, Spanien, Portugal, Indien, Karibik, Kuba, Brasilien, USA, Mexiko, Santo Domingo.
An dieser Stelle setzt die Erzählung ein. Während eines Aufenthalts in Deutschland lernt er die neun Jahre jüngere Betty Tendering kennen und ist fasziniert von ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Anmut, Belesenheit und Intelligenz. Die Beziehung zwischen den beiden befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen Annäherung und Ablehnung. Während Weerth alles unternimmt, um Betty für sich zu gewinnen und seinen Heiratsabsichten zuzustimmen, zögert sie, vielleicht aus Angst vor Bindung, wie Hauser vermutet, verborgen hinter der Befürchtung, ebenso wie ihre Mutter einem baldigen Lebensende entgegenzusehen.
Enttäuscht setzt Weerth seine Handelsreisen fort, lässt sich in Havanna nieder, wo er 1856 mit nur 34 Jahren an einer Malaria erkrankt und stirbt. Betty Tendering heiratet 1860 den Brauereibesitzer Heinrich Tigler. Ihre Briefe, die sie an Weerth geschrieben hatte, wurden ihr nach dessen Tod von seinem Bruder übergeben. Sie hat sie bis zu ihrem Tod 1902 aufbewahrt.
Mehr zu Leben und Werk von Georg Weerth: https://weerth200.de/
Mit diesem jüngsten Werk Wie ich Klavierspielen lernte (2019) knüpft Hanns-Josef Ortheil erneut an seinen autobiografischen Roman Die Erfindung des Lebens (2009) an. Er schildert darin in beeindruckender Weise sein Herantasten an das Instrument, von dem er sich magisch angezogen fühlt, aber zunächst eine respektvolle Distanz wahrt. Taste für Taste "erobert" er sich die Musik, bei der seine Mutter anfangs eine wichtige Rolle spielt. Mit der Zeit emanzipiert er sich von ihr und ihrem eingleisigen, von der Romantik geprägten Musikgeschmack, ebenso von seiner ersten "richtigen" Klavierlehrerin, die erfolglos versucht, ihm die "russische Schule" und ihre Musik nahezubringen.
Seine musikalische Entwicklung erhält eine neue Richtung durch einen gleichaltrigen Freund, den er in einem Kölner Klaviergeschäft kennenlernt. Dieser ist der Sohn des Inhabers, gewinnt bereits als Kind und Jugendlicher Klavierwettbewerbe und macht später international Karriere als Pianist. Er macht ihn mit seiner Klavierlehrerin, einer Schweizerischen Pianistin, an der Musikhochschule Köln bekannt, bei der er als Jungstudent Unterricht erhält. Auch Ortheil wird ihr Schüler, nachdem der Versuch mit einem anderen Klavierlehrer kläglich scheiterte, und später erhält sogar seine Mutter Stunden bei ihr. Von ihr erhält er wesentliche Impulse, nicht zuletzt durch ihre zugewandte und einfühlsame Art und ihr großes musikalisches Wissen und Können auf dem Instrument.
Ein weiteres wegweisendes Ereignis ist die zufällige persönliche Begegnung mit Glenn Gould am Tag seines Konzerts in Wien, das Ortheil mit seinem Vater besucht. Der berühmte Pianist hinterlässt einen bleibenden Eindruck auf ihn und bestärkt seinen Wunsch, Konzertpianist zu werden. Dass sich dieser Wunsch aufgrund einer hartnäckigen Sehnenscheidenentzündung nicht erfüllen kann, führt zu seiner späteren Entscheidung, seine schon seit früher Kindheit geführten Notizen und Tagebuchaufzeichnungen zu nutzen und sich als Schriftsteller zu etablieren. Seine hervorragenden Bücher und sein wunderbarer Schreibstil bestätigen die Richtigkeit dieser Entscheidung.
Aufmerksam auf das Buch Türke - aber trotzdem intelligent wurde ich durch eine Rezension in der Süddeutschen Zeitung. Was mich faszinierte, war aber weniger der Titel, wie man vermuten könnte, der die Integrations- und Anerkennungsprobleme von Gastarbeiterfamilien assoziiert, sondern vielmehr die Tatsache, dass Selcuk Cara ein deutscher Opernsänger ist. Beides zusammen ergibt für mich eine interessante Konstellation.
Nun ist Herr Cara kein Schriftsteller, was aber seinen Erzählungen an sich keinen Abbruch tut. Mich hat das Buch sehr gefesselt, auch wenn ich mir gewünscht hätte, mehr von seinem Lebens- und Karriereweg zu erfahren. Dabei hat er es gar nicht nötig, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Den vielen Andeutungen lässt sich entnehmen, dass er viel erlebt, gelernt, erlitten hat. Es scheint, als traue er sich nicht, Orte und Namen zu nennen, so dass es schwer ist, einem "roten Faden" zu folgen bei dieser Aneinanderreihung von Ereignissen, von denen es in seinem bis jetzt ca. 45-jährigen Leben sicherlich viel mehr gibt. Dass er bei all seinen Erzählungen an der Oberfläche bleibt, ist nach meinem Empfinden der einzige Schwachpunkt.
Nichtsdestotrotz gibt dieses Buch einen teils profanen, teils aber auch sehr poetischen Einblick in eine sensible Künstlerseele, die es geschafft hat, äußere, nicht immer angenehme Einflüsse zu absorbieren oder zu transformieren, um Kraft, Energie und Lebenswillen daraus zu schöpfen. Auf jeden Fall lesenswert!
Im Gegensatz zu den anderen auf dieser Seite vorgestellten Büchern handelt es ich hier nicht um einen Roman, sondern ein Sachbuch. Sebastian Purps-Pardigol ist aufgrund seiner langjährigen, recht bunten beruflichen Laufbahn, durch die er sich schließlich zum Führungscoach und Organisationsberater entwickelte, zu der Frage gelangt, wie zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren, welche Voraussetzungen für das Gelingen des menschlichen Miteinanders gerade auf unterschiedlichen Hierarchieebenen geschaffen sein müssen, wie Motivation entsteht und wie man diese fördern kann. Durch seine Freundschaft mit dem derzeit berühmtesten lebenden Hirnforscher Dr. Gerald Hüther hat er seine Erfahrungen mit den Erkenntnissen aus der Hirnforschung kombiniert. Bevor er sich entschied, sein so gewonnenes Wissen zu publizieren, hat er viele Unternehmen besucht, um in direktem Kontakt herauszufinden, wie die Praxis aussieht und ob bzw. wie sich seine Erkenntnisse überhaupt umsetzen lassen. Dabei ist er vielen interessanten Personen begegnet und hat Gespräche auf allen Ebenen, vom "einfachen" Mitarbeiter bis zum Unternehmensleiter, geführt, die bestätigen und beweisen, dass nachhaltiger Erfolg unter der Voraussetzung einer menschlichen Führung erzielt werden kann, die in der Lage ist, die in jedem Menschen vorhandenen verborgenen Kräfte und Potenziale zu entdecken und zu fördern.
Die von ihm besuchten Firmen kommen aus ganz unterschiedlichen Branchen, vom Hotelbetrieb über einen metallverarbeitenden Betrieb oder Safthersteller bis zur Großbäckerei oder einen Winterdienstleister. Auch die Art, wie in den einzelnen Unternehmen Führung gelebt und umgesetzt wird, unterscheidet sich in den Details. Aber eines ist allen gemein: Respektierung und Wertschätzung der Leistung des Einzelnen und Achtsamkeit im Umgang miteinander. Grundlage dieses Umgangs ist die Erkenntnis: Der Mitarbeiter ist kein Kostenfaktor, sondern ein Erfolgsfaktor.
Sehr empfehlenswert!
Ein gutes Buch zeichnet sich für mich durch einen guten Sprachstil und durch Spannung aus, die den Leser das Buch nicht aus der Hand legen lässt. Der Spiegelkanon von Paolo Maurensig verdient das Prädikat "gutes Buch" allemal.
In der Musik wird ein Kanon beschrieben als "ein kontrapunktisches Werk, in dem eine Stimme nach der anderen einsetzt und dabei die erste Stimme exakt nachgeahmt wird." (Quelle: klassik.com: Musik-Lexikon) Der Titel Spiegelkanon ist gut gewählt, bezeichnet er - ergänzt und präzisiert durch den Zusatz "Spiegel" - nicht nur das musikalische Genre, sondern lässt sich auch eindeutig auf die beiden Protagonisten Janö Varga und Kuno Blau übertragen.
Mittelpunkt ist eine wertvolle Geige, die dem unehelichen Kind Jenö von seiner Mutter übergeben wird, die sie wiederum vom Vater des Jungen, angeblich einem im Krieg gefallenen Soldaten, als dessen Hinterlassenschaft erhalten hat. Von Anfang an wird Jenö von dem Zauber des Instruments derart ergriffen, dass das Spielen auf ihr zu seinem einzigen Lebenszweck und -inhalt wird.
Im Musikinternat, das nur besonders talentierten Schülern vorbehalten ist und in dem ein hartes Regiment geführt wird, lernt er Kuno Blau kennen. Dieser entstammt einer adeligen, reichen Familie, ist also das genaue Gegenteil von Jenö, der aus einfachsten Verhältnissen kommt. Dennoch entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die sich auf dem großen Talent und der Freude am Geigenspiel beider gründet. Erst das Eintreten in einen persönlichen Wettbewerb macht aus dem Miteinander ein Gegeneinander, das den nekrophilen und schizophrenen Charakter Kunos immer deutlicher zum Vorschein kommen lässt. Die wertvolle Geige Jenös spielt dabei die Schlüsselrolle.
Die Geschichte wird erzählt von einem Mann, der dieses Instrument auf einer Auktion ersteigert hat und selbst die Geschichte der Geige von einem Journalisten zugetragen bekommt, dem sie wiederum von jemandem, dessen Schicksal ebenfalls mit ihr verbunden ist, berichtet wurde. Die Verschachtelung, die durch die Weitergabe der Geschichte von einem zum anderen entsteht, ist der einzige Schwachpunkt. Man darf das Buch zwischendurch nicht zu lange beiseite legen, sonst vergisst man, wer nun gerade erzählt.
Der (Geigen-)Bogen wird weit gespannt, die Zusammenhänge und die Identitäten einzelner Personen lösen sich für den Leser erst am Schluss auf, buchstäblich auf der letzten Seite, im letzten Kapitel, im letzten Satz. Ein sehr empfehlenswertes Buch, für das Musikkenntnisse nicht zwingend erforderlich sind.
Herrlich! Herr Mozart wacht auf - 2006, mehr als 200 Jahre nach seinem Tod. Ein Buch, das pfiffig, unterhaltsam, intelligent und witzig geschrieben ist, als Erstlingswerk von Eva Baronsky, die weder Musikerin noch Schriftstellerin ist, aber durch ihre Detailgenauigkeit beweist, dass Liebe zu dem, was man tut, durchaus geeignet und ausreichend ist, um so etwas Wunderbares zu schaffen.
Man möchte einfach nicht aufhören zu lesen, man fließt nur so dahin, weiter ins nächste Kapitel, gespannt darauf, was Herrn Mozart gut 200 Jahre nach seinem irdischen Ableben wohl noch so begegnen mag in der heute so fremdartigen Welt. Vieles, was uns heute selbstverständlich und alltäglich erscheint, bekommt, durch seine Augen betrachtet, plötzlich einen ganz neuen (manchmal fragwürdigen) Sinn. Tief taucht man in die Musikerseele Mozarts ein und bekommt eine Idee davon, wie eine Künstlernatur "tickt", was Genialität mit einem Menschen macht, dem die Musik "gleichsam das Blut in meinen Adern" ist. Ein herrlicher Spaß auch das Aufeinanderprallen der Idiome - Mozarts reich verzierte Sprache des 18. Jahrhunderts versus die schnodderige des 21. Jahrhunderts.
Fazit: eine Freude für jeden, der sich nicht nur für das Hören von Musik interessiert!
Der erste Band Der Pfad des friedvollen Kriegers wurde mir von einer Freundin in die Hand gedrückt, die das Lesen dieses Buches zur Erhaltung meiner seelischen Gesundheit und Stabilität für unverzichtbar hielt. Der Widerspruch, den der Titel enthält, hat mich angezogen: Ein "Krieger", der "friedvoll" einen "Pfad" beschreitet? Ist ein "Krieger" nicht eher jemand, der Verwüstung und Verderben hinterlässt und alles andere als friedvoll auftritt?
Schnell wird klar, was es mit dieser Antagonie auf sich hat. In das Leben des jungen Amerikaners Dan, einem bisher mit sich und der Welt zufriedenen, aber etwas gelangweilten Sportstudenten, taucht plötzlich ein älterer Herr auf, der über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügt und sich Socrates nennt. Fasziniert von dessen Persönlichkeit und der Deutlichkeit, mit der er Dan einen Spiegel vorhält, begibt Dan sich mit ihm als seinem Lehrmeister auf den sehr mühevollen Pfad zu einem erfüllteren und friedvolleren Leben.
Der Band Socrates - Der friedvolle Krieger beschreibt nicht, wie man meinen könnte, den weiteren Weg des Studenten Dan, sondern das Leben und den Weg Socrates' zu seiner eigenen Meisterschaft. 1872 in Russland geboren und unter schwierigen Bedingungen als halbjüdischer Vollwaise dort aufgewachsen und in der Tradition des Zar-getreuen Kosaken in einer Kadettenschule erzogen, musste er früh lernen, sich gegen Gewalt und Willkür zur Wehr zu setzen. Auf seinem langen und einsamen Weg, der als einziges Ziel hatte, sich an seinem Todfeind für die Ermordung seiner jungen Familie zu rächen, hat er seine Meister getroffen, die ihm auf ihre Weise geholfen haben, sich im besten Sinne zu perfektionieren. Neben verschiedenen Kampftechniken hat er gelernt, seinen Geist zu beruhigen und seinen früheren Hass zu transformieren: nicht mehr Rache heißt sein Ziel, sondern die Beendigung tyrannischer und brutaler Gewalt, die eine Vielzahl von Opfern vor allem unter der jüdischen Bevölkerung fordert.
Dass sich Socrates, mit bürgerlichem Namen Sergej Iwanow, schließlich als Dan Millmans Urgroßvater entpuppt, der seinerseits gezielt den Weg Dans gekreuzt hat, war für mich eine Überraschung. Die sehr verschlungenen Wege, die letztendlich zu dem Ziel geführt haben, mit einer anderen Bewusstheit zu leben, haben mir gezeigt, dass es einen größeren Plan gibt, den wir mit unserem beschränkten Verstand gar nicht (be-)greifen können. "Jede Reise hat eine geheime Bestimmung, von welcher der Reisende selbst nichts weiß." (Zitat von Martin Buber und an den Beginn des Prologs zu Socrates gestellt).
Hans J. Haupt ist kein professioneller Schriftsteller, sondern ein älterer Herr, der erst jetzt wahrgemacht hat, was er sich seit Jahrzehnten vorgenommen hatte: seine ganz persönlichen Kriegserlebnisse aufzuschreiben, die aber nicht, wie bei den meisten Veteranen, von Schlachtgetümmel geprägt waren.
Er war erst vier Jahre alt, als er ins westfälische Weserbergland zwangsevakuiert wurde. Untergebracht war seine Familie – Mutter und fünf Kinder, er der Zweitjüngste, Vater als Soldat an der Front – auf dem Gutshof an der Abtei in Marienmünster. Die Erlebnisse dort von September 1944 bis zur Rückkehr ins heimatliche Rheinland 1952 schildert er im Rückblick mehr als 60 Jahre später, aber dennoch aus seiner kindlichen Sicht.
Mich hat diese Erzählung deshalb interessiert und gepackt, weil mir die Verhältnisse an der und um die Abtei bestens vertraut sind. Nach Lektüre dieses Buches sind mir plötzlich Zusammenhänge, aber auch die teils knarzigen Charaktere im „gebirgichten Westfalen“, wie Annette von Droste-Hülshoff in ihrer Judenbuche so treffend beschreibt, mehr als deutlich geworden. Auch wenn die meisten dort beschriebenen Menschen heute nicht mehr leben – ihre Nachfahren sind noch dort, und dies ist unverkennbar.
Die Amerikanerin Jean Liedloff (1927-2011) lebte in den 1960ern mehrere Jahre bei und mit dem Indianervolk Yequana im venezolanischen Urwald. Was sie veranlasste, länger als ursprünglich geplant zu bleiben, war die Wahrnehmung einer großen Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, die das Volk trotz der schwierigen Lebensumstände ausstrahlte. Es reizte sie zu erforschen, was die Ursache dieses Glücksgefühls war.
Was sie herausfand, war für damalige wie auch heutige Zivilgesellschaften revolutionär. Im Gegensatz zu der körperfeindlichen Entwicklung in der christianisierten Zivilisation ist es für die Yequana selbstverständlich und naturgegeben, ihren Kindern so lange und ausgiebig direkte körperliche Nähe zu geben, wie sie sie benötigen und verlangen. Es gibt keinerlei erzieherische Maßregelungen oder Einschränkungen, sowohl bezüglich ihrer Bedürfnisse als auch ihrer Handlungen. Es herrscht ein großes Maß an Ver- und Zutrauen in die Fähigkeiten und das Verantwortungsbewusstsein untereinander, und das beginnt bereits im frühesten Kindesalter. Gleichzeitig wird jedem das Maß an Freiraum und Selbstbestimmung zugebilligt, das er beansprucht. Es wird über das, was man tut, nicht nachgedacht oder diskutiert, schon gar nicht missioniert. Im Gegenteil konnte Jean Liedloff herausfinden, dass immer dort, wo die Zivilisation Einzug erhalten hat, sich das Verhalten veränderte, Neid, Unzufriedenheit und andere zivilbedingte Erscheinungen auftraten.
Der Originaltitel The Continuum Concept weist auf die Erkenntnis hin, dass dieses Verhalten evolutionär verankert ist und dem ursprünglichen und jedem Menschen innewohnenden Bedürfnis nach körperlicher Nähe entspricht, die allein das für das Leben so unverzichtbare Urvertrauen herstellen kann. Durch die Abgeschiedenheit ihres Dorfes und die Geschlossenheit des Lebensfeldes wird Einflussnahme von außen weitgehend verhindert - das Lebensrad kann sich ungestört weiterdrehen.
Der Zufall wollte es, dass mir dieses Buch Die Erfindung des Lebens von Hanns-Josef Ortheil geschenkt wurde und ich in Ermangelung interessanter Lektüre zu diesem Zeitpunkt anfing, es zu lesen. Es hat mich dermaßen gefesselt, dass ich kaum aufhören konnte zu lesen und zudem begann, mich für den bis dahin mir unbekannten Autoren zu interessieren.
Der Roman ist autobiografisch angelegt. Herr Ortheil erzählt darin seine durch Kriegserfahrungen seiner Eltern und den daraus resultierenden Verlusten geprägte Lebensgeschichte bis hin zum Versuch der Loslösung von seinem Elternhaus, an das er emotional stark gebunden ist.
Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil ist Teil des Romans Die Erfindung des Lebens, wurde von ihm aber schon vorher geschrieben.
Hanns-Josef Ortheil hat von frühester Kindheit an - bedingt durch anfängliche Sprachprobleme und deshalb von seinem Vater ermutigt - Tagebuch geführt und alle Erlebnisse minutiös notiert. Daraus resultiert ein riesiges Archiv mit jahrzehntealten Aufzeichnungen, die ihm immer wieder geholfen haben, die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend aufzuarbeiten.
Die Moselreise ist die erste von vielen noch folgenden Ausflügen, die Ortheil mit seinem Vater unternommen hat. Sie sollte ein Versuch sein, die enge Bindung zu seiner Mutter zu lösen und ihn für andere Menschen zu öffnen. Der Versuch darf als erfolgreich gewertet werden, auch wenn dadurch seine Bindung zwar weg von der Mutter, aber hin zum Vater gestärkt wurde.
Die Berlinreise Ortheils mit seinem Vater war deren zweite gemeinsame Unternehmung und fand bereits ein Jahr nach der Moselreise in den 1960er-Jahren statt. Anders als in dieser ging es diesmal vor allem um eine Reise in die Vergangenheit und ersten gemeinsamen Jahre seiner Eltern in Berlin, die stark von den Kriegserlebnissen geprägt waren. Ortheil wird hier zum ersten Mal auch mit den bedrückenden Ereignissen konfrontiert, die von Verlust und Trauer geprägt waren. Er erfährt von seinem Vater von der Zeit seiner Eltern in Berlin, ihren ersten Ehejahren und der Geburt und dem Tod seines ersten Bruders.
Für ihn ist es nicht einfach, sich ein umfassendes und zusammenhängendes Bild von alledem zu machen. Die Eltern sprechen für gewöhnlich nicht über diese Zeit, die sie zu sehr traumatisiert hat. Die Mutter verweigert sich ihr ganz, indem sie auch ihre Begleitung verweigert.
Wieder einmal hat Hanns-Josef Ortheil auf seine Tagebuchnotizen zurückgegriffen, die er akribisch aufgeschrieben und aufbewahrt hatte. Sie sind neben den persönlichen Anmerkungen auch ein ergreifendes emotionales Zeugnis der Zeit des Kalten Krieges, der Trennung zwischen Ost und West und den Folgen des Mauerbaus quer durch Berlin. Die Sichtweise eines 12-Jährigen geben den Schilderungen durch seine unvoreingenommene Wahrnehmung eine hohe Authentizität. Wieder einmal sehr lesenswert!
In dem Roman Abschied von den Kriegsteilnehmern schildert Hanns-Josef Ortheil die Verarbeitung des Todes seines Vaters und den Versuch, die "emotionale Last", die die enge Bindung zu ihm mit sich bringt, abzuschütteln. Durch die Sichtung des Nachlasses seines Vaters stößt er immer wieder auf Indizien seiner Kriegserlebnisse, über die dieser zu Lebzeiten nie gesprochen hatte. Plötzlich werden Zusammenhänge deutlich, und er bekommt Klarheit über bestimmte Wesenszüge seines Vaters und dessen Motive für sein Handeln. Schließlich gelingt es ihm auch, seinen angestammten Platz innerhalb der Familienkonstellation zu finden, der ihm vermeintlich durch seine vier durch den Krieg verstorbenen Brüder streitig gemacht wurde.